Diabetes-Kids Elternblog: Für den Ernstfall vorbereitet? - Umfallen für Anfänger
Nach dem holprigen Start ins neue Schuljahr bekleidete ich inzwischen das erste Elternbeirats-Amt, und um Gerüchte auszuräumen: ich habe mich dafür nicht gemeldet, sondern wurde vorgeschlagen und habe mich letztendlich breitschlagen lassen. (Mit meinem Hintergrund wollte ich den Ball lieber flach halten.) Anders gesehen war das vielleicht die Gelegenheit, mich in einem günstigeren Licht zu präsentieren. Ein bisschen scheinheilig, ich weiß. Habe ich mir im Schwabenland abgeguckt. Uns Sachsen ist dieser Charakterzug fremd. Glaub ich.
Arbeitstechnisch konnte ich nicht klagen. Langsam arbeitete ich mich wieder in die Materie Rezeption ein. Inzwischen war eine Kollegin in Mutterschutz getreten und die andere wedelte fröhlich mit ihrem Mutterpass. Mein Chef, wie immer kurz vor dem Herzinfarkt. Mit anderen Worten, der tägliche Arbeitswahnsinn. Die Integrationskraft kam auch zurecht. In den vergangen Wochen gab es meistens nur Probleme, weil das Mittagessen so reichhaltig an Kohlenhydraten und Fett war. (Pommes, Pfannkuchen, Dampfnudeln, frittierte Kartoffeln mit Käsefüllung, Kaiserschmarren) Ach, das Beste ist, ich sag überhaupt nichts. Mit solchen Wahrheiten macht man sich keine Freunde.
Inzwischen fieberten alle dem großen Ereignis entgegen. Jeden Tag die gleichen Fragen. Wann kommt das Christkind? Wie oft muss ich noch schlafen? Wann sind endlich Ferien? Kekse?
Die Antworten: Bald. Noch so viele Finger. Bald. Einen Tag weniger, als gestern. Schau auf deinem Kalender nach. Ja/Nein/Später/Morgen.
Ich finde ja, Kekse schmecken am allerbesten, wenn die Kinder schlafend in ihren Betten liegen. Damit macht man sich auch keine Freunde. Ich weiß, ich weiß. Vorbild und so.
An so einem vorweihnachtlichen Wochenende hatte unser Sohn eine rechte Rotznase und war auch so nicht gut drauf. Mister Diabetes zog da natürlich locker flockig mit. Unser Sohn hatte ordentlich geschwitzt und sein Kopfhaar schrie laut danach, gewaschen zu werden. Also ließ ich ihn vor dem Abendessen noch kurz ins Meer hinaus schwimmen. Einen kurzen Tauchgang ins Seifenwasser. Er kam schon nach ein paar Minuten wieder heraus. Normal war das ja nicht, doch die kleine Schwester guckte gerade Sandmännchen. Ging ja gar nicht, dass sie schaute und er nicht. Also zog er sich seinen Schlafanzug an und kam zu mir in die Küche. (Die Pumpe musste wieder angeschlossen werden.)
Ich war damit beschäftigt, das Abendessen zu kredenzen. "Mama, ist das normal, wenn man so schwarze Punkte sieht?", fragte er mich. Während ich das Brot schnitt, zuckte ich gedankenverloren mit den Schultern. Ich sehe ständig irgendwelche Punkte. Habe ich schon immer, weil ich noch nie richtig klar sehen konnte. Vielleicht war das bei ihm auch so, aber er hatte es nur noch nicht bewusst wahrgenommen.
"Hast du Hunger?"
Zu mehr kam ich nicht. Er guckte mich nicht an. Sagte noch: "Ich glaub ich Träume", und dann fiel er wie ein Brett um. Mit dem Kopf gegen die Tür und ab auf den Küchenboden. Während er in die Horizontale ging, dachte ich erst noch, er macht wieder den sterbenden Krieger, der den Hungertod erlitt. Doch als er mit dem Kopf gegen die Tür aufbegehrte, da kam die Erkenntnis:
Das hier war keine Übung. Notfall. Alarm.
Alarm!
Und alles, was ich machte, war"S...!"zu schreien. (S... ist nicht unser Sohn, sondern mein Mann.)
Meine Gedanken purzelten durcheinander. Was ist mit dem Kind? Unterzuckerung? Was muss ich tun? In meinem Kopf entstand in Bruchteilen einer Sekunde das Bild der orangefarbenen Notfallspritze. Alles, was ich wusste, rauschte in einzelnen Fragmenten durch mein Hirn. Was mach ich zuerst? Den Notarzt rufen? Schreiend aus dem Fenster springen? Spritze in den, wohin eigentlich, ach egal rammen.
Ich rüttelte an seiner Schulter und tätschelte ihm die Wange."Jetzt war ich sooft beim erste-Hilfe-Kurs. Mensch, beruhige dich!", befahl ich mir.
Er regierte und verdrehte die Augen. Somit müsste er auch atmen. (Er lag ja noch auf dem Rücken.) Langsam ordneten sich meine Gedanken. Alles andere um mich herum war komplett ausgeblendet. Unser Sohn zuckte und reagierte nun auf mich. Stabile Seitenlage. Nicht notwendig. Sollte ich es wagen, ihn was einzuflößen? Lieber nicht. "Verdammt", dachte ich "warum misst du nicht erst einmal den Blutzucker, bevor du den Notarzt rufst?"
Messstreifen rein. Stupfen. Warten. 125mg. Gott sei dank! Spritze und Notarzt nicht notwendig.
Inzwischen begann sich unser Sohn zu regen und reagierte auch auf unsere Ansprache. Nachdem wir ihn auf den Küchenstuhl gesetzt hatten, hätte ich auch einen gebrauchen können. Meine Knie waren weich wie Pudding. Und als unser Sohn meinte, es sei ihm schon in der Badewanne so komisch gewesen, da hätte ich speien können.
Jetzt galt es, die aufgewühlten Emotionen zu glätten. Kurze Ursachenermittlung. Abendessen. Engmaschig den Blutzucker überwachen und schauen, ob noch etwas auffällig war. Natürlich den Kopf im Auge behalten. Übermorgen hatten wir sowieso einen Termin in der Diabetes-Sprechstunde.
Es war schwer, wieder innere Ruhe einkehren zu lassen. Aufgewühlt lag ich noch lange wach.
Ich erinnerte mich an meine Kindheit. Da bin ich auch hin und wieder zu Boden gegangen. Leider konnte ich keinen mehr danach fragen, wann das war, und warum. Vermutlich aus denselben Gründen. Wachstum, längere Zeit nichts gegessen. War das Wasser zu heiß gewesen? Vielleicht hatte unser Sohn ein Maulwurf-Gen. Die verhungern ja auch im null Komma nichts. Bei den Gedanken musste ich lachen.
Ich war schon eine perfekt (un)vorbereitete Diabetes-Mutti! "Kannst froh sein, dass das heute nur eine Trockenübung war", schallt ich mich. "Wenn du geglaubt hasst, dass du das ganz cool meisterst, dann hast du dich aber so was von geirrt!"
Umfallen für Anfänger. Die Prüfung hatte ich ordentlich vermasselt. Ich bin nicht so abgebrüht, wie ich dachte.
"Hauptsache, du hast daraus was gelernt." Danke, das hatte ich.
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