Diabetes-Kids Elternblog: SCHULBEGLEITUNG - EINE ÄRA GEHT ZU ENDE
Heute war mein letzter Arbeitstag angebrochen. Um meine Anspannung unter Kontrolle zu bringen, gönnte mir ein ausgedehntes Frühstück. Ging den Ablauf ein letztes Mal durch. Für die Zeugnisübergabe in der Aula wählte ich etwas Schickes aus dem Kleiderschrank. Kein Make-up. Ich wollte diesen Tag mit Würde über die Bühne bringen und nicht wie ein verheulter Panda aussehen. Bevor ich das Haus verließ, noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass dieses Schuljahr auf diese Weise enden würde! Das Schicksal war mir erneut vor die Füße gefallen. Und wie! Vor sechs Jahren hatte ich als Schulbegleitung angefangen, wurde recht schnell zur Schulassistenz für zwei Klassen und jetzt zusätzlich in der Funktion als „kleine Klassenlehrerin“. Und der winzige Kieselstein, der diese Ereigniswelle ausgelöst hatte, war der Diabetes meines Kindes. Bevor ich das Haus verließ, brummte ich vor mich hin: „Das glaubt mir kein Mensch!“
RÜCKBLICK - 2021 - EINE WIE KEINE
Mein erster Arbeitstag in dieser Klasse begann mit Chaos, denn pünktlich zum Schulbeginn streikte die Bahn und somit auch die Schulbusse. Davon waren nicht nur meine Kinder betroffen, sondern auch das Verkehrsaufkommen, was mich an diesen Montagmorgen erwartete. Mein Zeitmanagement scheiterte letztendlich am brechendvollen Parkplatz. Es war mein vierter Schulanfang, aber so überfüllt war es noch nie! Ich war rechtzeitig losgefahren, um den Großen Hallo zu sagen, um danach zehn Minuten vor der Zeit, am Treffpunkt der zweiten Klasse zu warten. Wie ich allerdings feststellen musste, waren viele Eltern noch vor mir und rechtzeitiger da. In den angrenzenden Straßen war nichts mehr zu finden, sodass ich mein Auto frustriert mitten im Parkverbot des Schulgeländes abstellte.
Im Klassenzimmer angekommen, starteten wir langsam in den Schultag. Man erzählte von den Ferien und beantwortete neugierige Fragen. Am ersten Schultag fand ich die neue Klasse sehr moderat. Doch ich wusste, dass sie sich in ihrer kurzen Schullaufbahn bereits einen gewissen Ruf erarbeitet hatten. Ich war nicht nur hier, weil ich mich super mit Diabetes auskannte, sondern auch, weil man mir wohl zutraute, dass ich am Ende des Schuljahres immer noch hier war. Und richtig, ich denke nicht daran das Handtuch zu werfen, auch wenn ich Psychiater, Pädagoge und Zirkusdirektor zugleich sein muss.
Es galt – das muss ich leider so sagen - mit einer Horde TRÄUMER, welche die immer die ERSTEN sein müssen, Kinder mit ADHS, MUSKETIEREN und zu guter Letzt, das Backpulver in jeder Klassengemeinschaft: die UNERZOGENEN, klarzukommen. Nach meinem Kenntnisstand gibt es in jeder Klasse ähnliche Mixturen. Entscheidend ist die Mengenverteilung.
DIE ERSTEN
„Wenn ich ausgeredet habe ...“, schon sprangen Kinder auf.
Eilends schnappten sie sich den Ranzen, rammten dabei Mitschüler. Lauter Protest ihrerseits erschallte. Die Stimme der Lehrerin wurde laut und übertönte den Aufruhr. „Zurück auf euren Platz! Ich sagte, wenn ich ausgeredet habe.“
Die Ersten setzten sich wieder an ihre Plätze und die Lehrerin begann erneut: „Wenn ich ausgeredet habe ...“ Wieder knarzten Stühle; die Ersten kamen in Startposition. Der Satzanfang: „Wenn ich ausgeredet habe“, glich vermutlich der gleichen Ansage wie: „Auf die Plätze fertig los!“ Und richtig, die Ersten saßen schon nicht mehr. Jetzt wurde der Ton der Lehrerin energischer. Ihre Mimik und Gestik signalisierten, dass alle sitzenbleiben sollten. Selbst mit FFP2-Maske war zu erkennen, ich definiere genauer, war für mich zu erkennen, was sie erwartete. Ruhig und bedächtig betonte sie jedes Wort: „Wenn ich ausgeredet habe, packen alle ihre Sachen in den Ranzen. Gehen leise zur Garderobe und ziehen ihre Straßenschuhe an! Schnappen sich ihre Turnsachen und stellen sich mit ihren Partnern in Zweierreihe auf!“
Es gibt Kinder, die müssen immer ERSTER sein. Keiner weiß was zu tun ist, wieso und warum, aber Hauptsache aufspringen und losrennen. Wer fragt verliert. Dabei wird alles mit sich gerissen, was ihre Bahn kreuzt. Normal zum Klo, zum Pausenhof, vom Pausenhof zurück oder einfach nur durch eine Tür gehen, funktioniert nicht. Wenn da eine Tür ist, dann musste die im Sturm erobert werden! Am besten noch zuknallen, um das ERSTER sein, optisch und akustisch für alle sicherzustellen.
Deshalb war es nicht verwunderlich, dass es zwischen den Ersten ständig zu Spannungen kam, da die Breite der Klassenzimmertür physikalisch festgelegt war. Außerdem wurden sie nicht müde aus der Zweierreihe auszubrechen, um die vorausgehende Sportlehrerin zu überholen. Sie müssen einfach überall die Nase vorne haben und nicht die Ersten zu sein strapaziert ihre Frustrationstoleranzgrenze gewaltig!
DIE TRÄUMER
Ihre Toleranzgrenze gleicht dem Mount Everest und der wird auch nicht an einem Tag bezwungen. Während die Lehrerin einen Test ankündigte, Trennwände aufgestellt und letzte Tipps gab, bemalten sie ihre Finger. Als dann die Blätter ausgeteilt wurden, waren sie völlig perplex. Aber wer jetzt glaubt, dass das etwas am Arbeitstempo geändert hätte, der irrt sich gewaltig! Jetzt wurde erst einmal der Bleistift gespitzt. So langsam, dass man kaum ausmachen konnte, ob sich der Stift im Spitzer nun drehte oder nicht. Den Träumern machte es rein gar nichts aus, als Letzte das Klassenzimmer zu verlassen. Nicht weil sie das bewusst wollten, sondern weil sie es schlichtweg nicht mitbekamen.
„Wenn ich ausgeredet habe, packen alle ihre Sachen in den Ranzen. Gehen leise zur Garderobe und ziehen ihre Straßenschuhe an! Schnappen sich ihre Turnsachen und stellen sich mit ihren Partnern in Zweierreihe auf!“ Ja, den Satz kennen wir schon. Macht aber nichts. Ich musste den auch in Endlosschleife ertragen.
Was genau von den Anweisungen durchgedrungen war, konnte ich nur durch Blickkontakt und direkter Ansprache erfahren. Die Spanne lag zwischen wenig und: „Ich male dir jetzt ein Bild!“
Anfangs war das noch ganz süß und ich musste öfter darüber schmunzeln, wenn sie zum wiederholten Male in Socken die Treppen hinunterliefen oder auf eine Frage antworteten, die vor einer halben Stunde gestellt wurde, oder auf Fragen antworteten, die niemand gestellt hatte. Mit der Zeit wurde es allerdings etwas anstrengend. Sollte jemals ein Brand ausbrechen … Man kann nur eine Sache machen. Entweder die Ersten davon abhalten kopflos aus dem Zimmer zu stürzen oder die Träumer an den Krägen packen und hinausziehen. Ich habe schließlich nur zwei Hände. Aber was ist mit dem Rest der Klasse?
Die MUSKETIERE
Sind Kinder, die zuhören können. Die Anweisungen verstehen und befolgen können. Die aus eigenem Antrieb lernen. Nicht weil sie sollen, sondern, weil sie wollen. Die wenigen Zeilen werden ihnen nicht gerecht. Immer wieder muss ich daran denken, sie gezielt anzusprechen und zu loben. Ihnen zu vermitteln, dass man sie sieht und ihre Leistung anerkennt.
KINDER MIT ADHS UND DIE UNERZOGENEN
Kinder mit ADHS sind wie Essig. Wohldosiert kann man super mit ihnen klarkommen. Sie sind nicht bösartig, können aber zu Furien werden, wenn man weiß, wo ihr wunder Punkt ist.
Wo es also richtig, richtig schwierig wird, wenn die Unerzogenen - das Backpulver - in Reaktion mit ihnen treten. Manchmal kam es mir so vor, als ob es ihr einziger Lebensinhalt war, das größtmögliche Chaos anzustiften.
Die Kinder unerzogen zu nennen ist hart, trifft aber den Kern der Sache. Ihnen fehlten gänzlich wichtige Regeln für zwischenmenschliche Interaktionen. Jemand der unerzogen ist, verhält sich nicht so, wie es die Gesellschaft erwartet.
Im konkreten Fall: „Wenn ich ausgeredet habe, packen alle ihre Sachen in den Ranzen. Gehen leise zur Garderobe und ziehen ihre Straßenschuhe an! Schnappen sich ihre Turnsachen und stellen sich mit ihren Partnern in Zweierreihe auf!“, ergänzen wir zu den Kindern, die es raus in den Flur geschafft hatten, noch diese Protagonisten hinzu.
Zusammengefasst ergab sich dann folgendes Bild: wenn sich die Ersten an der Tür entwirrt hatten, zusammen mit den anderen Kindern im Flur standen, die Träumer dazukamen, jeder mit seinem Partner bereitstand, es ruhig war und man loslaufen konnte, dann war ihre Stunde gekommen. Genau dann kickten die Unerzogenen den anderen Kindern in die Beine und die Zweierreihe löste sich schäumend in Wohlgefallen auf. Aus der Reihe wurde ein wilder Haufen, der sich anschrie und knuffte. Die Ersten rannten indessen schon mal voraus, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Aus einem geregelten Ablauf wurde binnen Sekunden Chaos! Und das war auch nicht schnell aufzulösen, weil die Ersten fast außer Hörweite waren, die Träumer mit der Reaktionsgeschwindigkeit überfordert, die Musketiere sich beschwerten und der Rest sich lautstark stritt. Sobald wir irgendwo hinlaufen mussten, fühlte es sich wie eine Weltreise an. Wir kamen nur sehr selten unter 10 Minuten zum Sekretariat. Der Gang zur Turnhalle dauert manchmal bis zu einer halben Stunde und war für alle der Highway to Hell. An der Sporthalle angekommen, mussten sich die Kids auch noch umziehen und spätestens danach war die Stimmung am Tiefpunkt.
„Alle kommen her und setzen sich in den Kreis!“, forderte die Sportlehrerin die Kinder auf.
Herr im Himmel,
gib mir die Kraft und Geduld
Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann!
RÜCKBLICK - EIN JAHR SPÄTER – DIE 3. KLASSE
Während ich mich auf ein weiteres Jahr freute, hoffte man im Kollegium, dass der Kelch an ihnen vorbeiziehen möge, denn durch die Pandemie waren fast alle als Vertretung in der Klasse gewesen. Man kam, sah und trauten seinen Augen nicht. Ich hatte schon ein Jahr damit verbracht das Verhalten der Kinder zu studieren und bekam keine Gesichtsentgleisungen mehr. Na ja, fast keine. Schließlich gab es noch keinen Nachmittagsunterricht und keinen langen Donnerstag.
Über das vergangene Schuljahr hatte ich nicht nur zu meinem Begleitkind eine Beziehung aufgebaut, sondern auch zum Rest der Klasse. Die Ersten wollten auch weiterhin die Ersten bleiben, allerdings gabs in Zukunft einen Oberersten und das war ihr neuer Klassenlehrer. Man könnte sagen, anfangs war es wie beim Militär. Nur ohne Geschrei. Es gab einen festen Plan, feste Rituale, die sich nicht änderten und bis zum Erbrechen geübt und eingefordert wurden. Wir kamen zügiger aus dem Klassenzimmer. Die Kinder profitierten davon und hatten richtigen Sportunterricht. Live und in Farbe. Manche in Hausschuhen oder in Socken. Aber geordnet, am Stück und ohne, dass mehr als die Hälfte ausflippte. Ganz ohne ging es nie. Sobald man auch nur für ein paar Sekunden den Rücken zudrehte, herrschte Anarchie. Ich wurde in alle Unterrichtsbelange mit einbezogen und baute mein Krisen- und Konfliktmanagement ständig weiter aus. Knüpfte Kontakte zu neuen Lehrkräften aus den Klassenstufen. Man investierte richtig viel Geld in diese Klasse, indem wir regelmäßig mit Erlebnispädagogen unterwegs waren. Mein Highlight war die Kanufahrt, von der ich bereits berichtet hatte. (Erlebnispädagogik – Wir gehen dann mal Kanufahren) Die zweite Lehrkraft erwartete zu der Zeit ein Kind. Und wieder kamen und gingen die Vertretungslehrer.
Ende der 3. Klasse wurde Bilanz gezogen, was zur Folge hatte, dass diese Klasse als einzige nicht ins Schullandheim fahren würde. Hat mir gar nicht gefallen, aber ich konnte bei der Fülle an Ereignissen nachvollziehen, dass er das Risiko nicht eingehen wollte. Wir hätten niemals alle lebendig zurückgebracht.
DAS 4. SCHULJAHR – WENN DAS SCHICKSAL EINEM VOR DIE FÜßE FÄLLT
Statt Schullandheim gab es einen Gruselabend kurz vor den Herbstferien. Wir hatten einen schönen Herbst. Ganz ohne Pandemie. Mein Begleitkind hatte sich an die Pumpentherapie gewöhnt, sodass wir in die letzte Phase übergehen konnten. (Es gibt keine Probleme, nur Lösungen.)
Ich weiß den genauen Zeitpunkt nicht mehr, nur dass es vor den Faschingsferien war, als der Klassenlehrer mir eröffnete, dass es ihm gesundheitlich schlecht ging. Da ich ihn gut kannte war mir aufgefallen, dass er anders war und hatte ihn darauf angesprochen. Von da an nahm das Schicksal seinen Lauf. Ich unterstützte, wo ich konnte. Und dann war er weg. Am Montagmorgen nach den Osterferien wusste ich, dass er nicht mehr so schnell wiederkommen würde. Also übernahm ich das Ruder. Zuerst einmal die erste Stunde mit einem Erzählkreis.
2024 MEIN LETZTER TAG
Zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn herrschte schon ein reges Treiben auf den Treppen und in den Fluren. Die Direktorin stand vor dem Sekretariat in einer kleinen Gruppe. Ich sah schon an den Gesichtern, dass Katastrophenalarm bestand. Ich grüßte und wir nickten uns gegenseitig zu. Schien mich nicht zu betreffen und wenn doch würde ich es demnächst erfahren. Zuerst musste ich meine Mission erfüllen. Ich bog nach rechts in den Flur, bis zum Ende und schloss die Tür auf. Erst einmal die Fenster öffnen, um den muffigen Geruch loswerden. Für die mitgebrachten Brötchen ein Tablett holen und ein paar Teller. Die Schüler hatten sich für den letzten Tag ein paar Spiele gewünscht, daher baute ich die Frühstückstafel seitlich auf, um noch Platz dafür zu haben. Nacheinander kamen sie herein und rückten mit mir Tische und Stühle zurecht. Fürs Buffet wurde eine Bank umfunktioniert.
Mein Begleitkind kam herein und stellte sich ganz nah vor mich. Wie immer sah ich das Feuerwerk in ihren Augen. Ich kenne sie gut. Sie braucht Abstand. Hat aber immer wieder Phasen, wo sie meine Nähe sucht. Mich kurz berührt oder meine Hand streift, was sich manchmal anfühlt, als würde ein Schmetterling landen. In Momenten wie jetzt, wenn sie die Anspannung kaum noch aushält, dann passiert es, dass ihre Augen all das versprühen, was ihre Gesichtsmuskeln nicht so gut widerspiegeln können, aber mein Herz dahinschmelzen lässt. Heute hielt sie eine Tüte in der Hand. Gefüllt mit Dingen die sie für mich gebastelt hatte. Vorbei. Meine Stimme begann zu zittern und die Augen brannten. „Oh nein, jetzt weine ich schon vor der ersten Stunde!“ Wir lachten zusammen los.
Einer der Jungs rief: „Dürfen wir uns heute so hinsetzten wie wir wollen?“ ich überlegte kurz und nickte schließlich. Im Zimmer brach Jubel aus und Allianzen wurden geschmiedet. Als nächstes forderte Niko meine Aufmerksamkeit. Um zu mir hochzuschauen, musste er den Kopf ganz weit nach hinten biegen. Er lebt in seiner eigenen Welt. Gerade ist er daraus aufgetaucht. Auf den ersten Blick denkt man, dass er sich auf dem Weg zum Kindergarten verlaufen hat. Nur halb so groß und zierlich, aber beweglich wie ein Gummiband. Wir hatten tags zuvor besprochen, was heute mitgebracht werden sollte. Gerade erfasst er, dass er der Einzige war, der … Mein Blick fällt auf das mitgebrachte Messer von Alexander. Ich gab Nico lächelnd einen Teller aus der Schulküche und beobachtete, wie er sich damit in seiner typischen tänzelnden Art durch den Raum bewegte.
Dann ging ich zum Platz, auf dem ein äußerst spitzes Messer lag „Alexander, das Messer ist ganz schön spitz. Stecke es bitte zurück in deine Tasche. Ich gebe dir ein anderes.“ Das Messer wäre vermutlich in einer anderen Klasse keine Gefahrenquelle, aber hier musste man sich wirklich alles doppelt und dreifach überlegen. Ein kurzer prüfender Blick in die Runde. Mir entgeht kaum noch etwas. Ohne große Anstrengungen erfasse ich, was im Klassenzimmer vor sich geht. Alles wird ungefiltert aufgenommen und kategorisiert. Konnte man noch ein paar Sekunden zulassen, dass keiner eine Aufgabe hatte? Keine Aufgabe ist gleichzusetzen mit der Einladung zur Anarchie, was wenn man es laufen lassen würde - hier mit diesen Kindern - unweigerlich zu Zerstörung und Verletzungen führt. Nicht eventuell, sondern todsicher!
Mein Radar hatte die üblichen fünf Kinder erfasst, während ich die Waage aus dem Schrank holte und zum Platz meines Begleitkindes brachte. Noch ein paar Sekunden. Ich erkundigte mich, ob sie nach ihrem Wert geschaut hätte. Sie hielt mir ihr Handy unter die Nase. 136 mg. Na, dann kanns ja losgehen. Die Jungs begannen mit Anlauf gegeneinander zuspringen. Prallten zurück und stürzten zu Boden. Der Kipppunkt war erreicht. Ein kurzes Signal und es wurde leise. Sie setzten sich zur Begrüßung an ihre Plätze. Kinder sind Gewohnheitstiere. Daher wurde nach dem Begrüßungsritual der Tagesablauf besprochen.
- Gemeinsames Frühstück
- Tombola
- aufräumen
- ein Spiel
- Besuch des Klassenlehrers
- Überraschung für den Klassenlehrer
- Zeugnisübergabe in der Aula
- Abschlussfeier mit dem Klassenlehrer
- musikalischer Rauswurf aus der Schule
Kurz vor zehn Uhr. Endlich! Der Klassenlehrer kam zu Tür herein und der Jubel war groß. Ich klatschte in die Hände und sagte: „Achtung: 3 … 2 … 1 …“ und alle begannen „Happy Birthday“, zu singen. Danach gab es ein Eis, was die Kinder sehr freute, weil es ebenfalls auf ihre Wunschliste stand. Nun ging es in die Aula und mein Herz klopfte wie wild. War eine bewegende halbe Stunde für mich. Ein letztes Mal Bühnenpräsens zeigen.
Mein Meisterstück hatte ich schon hinter mir, als ich ein legendäres Klassenfest geplant und organisiert hatte. Die Eltern sorgten fürs Buffet, ich für Musik, eine festlich geschmückte Säulenhalle mit Cocktailbar, die von zwei Schülern gerockt wurde. Als Ehrengast kam natürlich der Klassenlehrer und die ehemalige Deutschlehrerin mit ihrem Kind vorbei. Ein durchweg gelungenes harmonisches Fest.
Nach der Abschlussfeier mit dem Klassenlehrer, dass noch einige ruhige und emotionale Momente beinhaltete wollte ich keinen tränenreichen Abschied provozieren. Die Kinder sollten glorreich das Schulgebäude verlassen. Dafür hatte ich eine Musikbox mitgebracht. Wir sammelten uns vor dem Klassenzimmer und ein letztes Mal hieß es, sich in Zweierreihe aufzustellen. „Seid ihr bereit? Jetzt verlässt eine Legende das Gelände!“ https://www.youtube.com/watch?v=Y24CSNtORjM Winkend und unter den lauten Stampfen, jeder einen Luftballon haltend, laufen wir ein letztes Mal am Sekretariat vorbei. Die Treppen hinunter. Fröhlich winkend halte ich die Tür auf und begleite sie musikalisch durch die Tür.
Später falle ich den Elternbeiräten um den Hals. Wir verabschieden uns und ich wünsche ihnen alles Gute. Auch mein Begleitkind steht da und ist noch hin und her gerissen. Ich wünsche ihr noch einmal schöne Ferien und sage, dass wir uns mit Sicherheit noch einmal sehen werden.
Das war´s!
Vorbei.
Ähm, der offizielle Teil.
INOFFIZIELL SIEHT ES ANDERS AUS
Zum Aufräumen war keine Zeit, denn im Lehrerzimmer fand die letzte GLK (Gesamtlehrerkonferenz) vor den Sommerferien statt. Seit der Klassenlehrer nicht mehr da war, hatte ich ihn bei vielen schulinternen Veranstaltungen vertreten, wie dem Flurlesen, am Projekttag, der Projektwoche, Völkerballturnier, der Schulversammlung, Besuch bei der Feuerwehr. Den Vertretungslehrern erklärt, was wo zu finden war. Dienste eingeteilt und die Kinder beim Klassenrat unterstützt. Jeden Freitag nach Schulschluss das Klassenzimmer und Lehrerpult aufgeräumt. In der Vesperpause hatte ich schon immer vorgelesen. Die letzten beiden Bücher kamen besonders gut an. (Die schlimmste Klasse der Welt) Hatte das Abschlussfoto und die Fotomappe organisiert. Beim Ausräumen des Klassenzimmers geholfen. Die Schulbücher eingesammelt und weggebracht. Ha, und natürlich mein legendäres Klassenfest. Viele organisatorische Dingen können nur im Team koordiniert werden. Daher saß ich öfter in meiner Freizeit bis zum späten Nachmittag in diesen Konferenzen. Heute stand ich selbst als Programmpunkt auf der Liste. Unter der Rubrik Verabschiedung. Seit gestern war klar, dass ich nicht mehr an der Schule bleiben würde. Das Tauziehen hatte bereits in der Vorwoche angefangen und die Entscheidung war erst gestern Abend gefallen, an welcher Schule ich gehen würde. Als Schulbegleitung bin ich das letzte Rad im Getriebe. Ein Spielball von Behörden. Ich werde wie ein Spielzeug hin- und hergeschoben und wenn Ämter meinen, dass man mich nicht mehr braucht, müssen Lehrkräfte und Eltern gut begründen. In meinem Fall hatte ich mich, so wie es vorgesehen war, selbst abgeschafft. Es war von Anfang an klar, dass es nur bis zur 4. Klasse gehen würde. Die Verabschiedungsrede ging mir leichter von den Lippen, als ich es erwartet hatte. Sie kam vom Herzen, denn ich war dankbar, dass ich hier so viel lernen durfte und mit allen auf Augenhöhe war.
MEIN ALLERLETZTER INOFFIZIELLER TAG
Am ersten Ferientag war ich schon um kurz nach 8 Uhr in der Schule. Schloss das Klassenzimmer auf, öffnete die Fenster. Heute würde es mächtig heiß werden. Vor einer Woche hatte ich begonnen, die Bilder der Kinder von den Wänden zunehmen und in Kunstmappen zu verpacken. Meine Bücher, die ich übers Jahr aus den öffentlichen Bücherregalen gesammelt hatte, spendete ich den schulinternen freizugänglichen Bücheregal, was im Rahmen der Projektwoche von Schülern hergestellt wurde. Der Sitzsack ging in ein anderes Klassenzimmer. Alles, was mir sonst noch so gehörte, wie Decken und ein Teppich passten in zwei große Taschen. Danach hängte ich den Rest von den Pinnwänden ab und sortierte Pinnnadeln und Magnete in ihre Behältnisse zurück. Putzte alle Tafeln, räumte die Trommeln, die wir für die Geburtstage gebraucht hatten in die Aula zurück. Ich war nicht die Einzige. In der Schule ging es zu, wie in einem Bienenstock. Überall wurde aus- oder eingeräumt und geputzt. Neue Lehrkräfte waren eingetroffen. Sie saßen in kleinen Gruppen mit ihren Laptops zusammen und bereiteten schon die Briefe für die zukünftigen Erstklässler vor. Darunter auch die Lehrkraft, die das Klassenzimmer übernehmen würde. Sie wusste es noch nicht, aber sie hatte das große Los gezogen. Das Zimmer war das größte an der Schule und im Sommer lag es im Schatten.
Gegen 10 Uhr war ich fertig und begann mich zu verabschieden. Bis ich durch alle Zimmer gewandert, mit allen gesprochen, verabschiedet und umarmt hatte, verging deutlich mehr als eine Stunde. Danach saß ich, wie versprochen beim Klassenlehrer. Jeder mit einem Glas Sekt in der Hand. Der Gesprächsstoff geht uns selten aus, aber leider musste ich um 12 Uhr beim nächsten Gesprächstermin sein. Blieb noch der allerletzte förmliche Akt, der Schlüsselübergabe im Sekretariat. Die Sekretärin hat mich dann doch noch aus der Fassung gebracht und wir lagen uns heulend in den Armen.
EIN NEUER ERSTER TAG
Am zweiten Ferientag saß ich mit meiner zukünftigen neuen Kollegin zur Vorstellung in einer kleinen ländlichen Grundschule. Witziger fun fact, sie hat ebenfalls ein Kind mit Diabetes. Im September starten wir beide in einer ersten Klasse und nach allem was ich weiß, wird das ein hammermäßiges Brett werden. Medizinisch und pädagogisch.
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