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Diabetes-Kids Elternblog: Was macht eine Integrationskraft/Schulbegleitung eigentlich die ganze Zeit?

„Ich sitze wie ein Presser neben dem Kind und unterbinde jede Kommunikation zu Mitschülern. Lese bevorzugt Zeitung und ansonsten erledige ich die Aufgaben des Kindes, damit es ja nicht den Stift heben muss. Und wenn ich noch Zeit habe, dann lackiere ich meine Fingernägel.“ So hatte ich neulich amüsiert auf die Frage geantwortet. Ich war deswegen nicht böse, sondern fand die Vorstellung sehr lustig. In Wirklichkeit weiß ich es besser, denn ich l(i)ebe den Beruf.

Was machen denn Eltern mit Kindern, die Diabetes haben? Ist doch ganz easy oder? Diabetes zu managen, ist doch so einfach und leicht wie eine flauschige Feder, die durch die Luft schwebt. Ist er nicht?  

Warum der berühmte, geißelnden Schatten heraufbeschworen wird, wenn es um Schul- oder Kindergartenbegleitung geht, weiß ich nicht. Das System ist nun mal so, dass eine Schulbegleitung für ein Kind beantragt werden muss. Gäbe es die Möglichkeit, es für eine ganze Klasse zu tun, dann würde ich sofort unterschreiben! Dass Schule sich wandeln muss, wissen wir alle und das meine Freunde wäre eine Lösung, die allen Kindern gerecht werden würde und keine Schatten produzieren, weil Teilhabe uns alle betrifft! Ein Kind mit LRS hat ebenso das Recht teilzuhaben, aber die Eltern kein Recht eine Schulbegleitung zu bekommen und das, obwohl es dieses Kind so sehr verdient hätte. 

Aber hey, ich nehme es mit Humor, so wie ich meinen Arbeitsalltag mit Humor nehme. Wisst ihr was, ich lade euch ein mit mir eine kurze Zeit im Klassenzimmer zu verbringen. Sagen wir bis zur großen Pause. Wer Lust hat, folgt mir unauffällig. (Die Namen sind übrigens frei erfunden und das Geschlecht habe ich bei einzelnen Kinder bewusst weggelassen.)

Ein Klassenzimmer ist und bleibt ein Mysterium. Wie sich so viel gleichzeitig in einem Raum abspielen kann, ist für mich immer wieder spannend zu beobachten. Nach fünf Jahren als Schulbegleitung in einer Grundschule habe ich Argusaugen entwickelt. Ich will nicht behaupten, dass ich alles mitbekomme, aber vieles, was sich außerhalb des Blickfeldes der Lehrkraft befindet. Inzwischen weiß ich, welche Lehrkraft, welche Störungen toleriert und welche nicht. Würde man auf alles eingehen, wäre kein Unterricht mehr möglich. Manche Dinge regelten sich auch von selbst. Man muss nur abwarten können.

Wir könnten uns ja zusammen für ein paar Minuten ins Klassenzimmer schleichen und zuschauen, was da so los ist. Aber leise, denn diese Lehrkraft mag keine großen Planabweichungen und die Kinder reagieren auch äußerst sensibel auf Veränderungen in ihrem Alltag. Da ist jede Klasse gleich. Sind Abläufe und Rituale erst einmal eingeführt, bedeutet auch nur die kleinste Änderung großes Chaos, was auch erklärt, warum es Vertretungskräfte so schwer haben und Kinder an solchen Tagen besonders durch den Wind daheim ankommen.

Jetzt, die Gelegenheit ist günstig. Julia und Alexandra laufen kichernd durch die Klassenzimmertür. Am besten ihr kommt mit mir nach hinten. Dort steht mein Tisch und wer Rückenprobleme hat, darf sich auf meinen Stuhl setzen. Der ist nagelneu und muss noch eingesessen werden. Mir fehlt meist die Zeit dazu.

Vor Unterrichtsbeginn ist Orga-Zeit. Zeit für die Organisation. Den Kindern wird erklärt, welche Fächer in welcher Stunde und welche Vertretungslehrer kommen. Heute gibt es drei Vertretungsstunden mit drei unterschiedlichen Vertretungskräften. Danach werden Fragen dazu beantwortet. Briefe ausgeteilt und eingesammelt, sowie Notizen ins Hausaufgabenheft geschrieben.

Erst danach und mit der gewohnten Verzögerung, konnte der Unterricht beginnen. Die üblichen Kandidaten versuchten nichts ins Hausaufgabenheft zu schreiben, damit ihre Eltern bloß nicht auf den Gedanken kommen könnten, dass etwas zu tun wäre. Am Schuljahresanfang versuchte man das Heft unter der Sitzbank zu vergessen, was allerdings nicht zum Erfolg führte, denn ich hatte den Kindern ein Leseband fest geknotet. Am Ende des Bandes befand sich jeweils eine dicke Holzperle. Damit sollten die Kinder besser die richtige Seite finden, aber die Holzperlen hatten noch einen ungewollten Nebeneffekt. Es fällt brutal auf, wenn man das Hausaufgabenheft unter seinem Tisch verschwinden lassen möchte. Entweder hängt das Bändchen raus, oder die Perle ist noch deutlich zu erkennen. Kleine Ursache, große Wirkung!

Noch eine Warnung zu den Sitzgelegenheiten im Klassenzimmer. Ah, ich sehe, ihr habt schon die sechs Wackelstühle neben mir am Gruppentisch entdeckt und ich sehe auch, dass der Körper schon intuitiv anfängt, die Bewegungen zu machen, die guttun. Diese Stühle werden für Kinder eingesetzt, die Probleme mit dem Stillsitzen haben. Also so gar nicht sitzen können und mit so einem Hocker klappt es fast wie von Zauberhand. Damit das Umfeld von der Seekrankheit verschont bleibt, stehen die Hocker hier.

Ach her je, sorry, aber ich muss euch bitten aufzustehen, ja, ihr da hinten auch. Geht mal in die Leseecke. Warum? Wir müssen Platz machen für sechs Schüler aus der ersten Klasse. Die Lehrerin ist krank und die Klassen wurde aufgeteilt.

Wartet mal kurz, ich frage nach, wie lange sie hierbleiben und ob noch jemand kommt, der sich um die Kleinen kümmert. Hm, sie bleiben nur eine Unterrichtsstunde, ich schaue kurz nach ihnen, damit jeder was zu tun hat, weil wenn nicht, dann machen sie nur Quatsch. Bei den Seiten, die sie bearbeiten sollen, ist zum Glück eine mit dabei, auf der sie verbinden und viel malen sollen. Das ist gut, denn Erstklässler können in den seltensten Fällen leise lesen. Allerdings verstehen sie die Arbeitsanweisung nicht. Auch nicht ungewöhnlich. Also erkläre ich es ihnen. Ich kenne die Aufgaben schon. Hatte ich mit der anderen Klasse im Wechselunterricht und in der Notbetreuung. Dass Klassen aufgeteilt werden, ist übrigens keine Seltenheit. Liegt an der Schwangerschaftswelle. Eine Klasse musste deswegen schon aufgelöst werden, denn was nach Außen kommuniziert wird, findet so nicht statt. Eine schwangere Lehrerin bedeutet Stundenausfall und Vertretung über Monate hinweg bis zum Mutterschutz. Ja, du hast schon recht, Lehrermangel haben wir auch, aber schau da vorne steht doch einer. Einer für 27 Schüler. (Ein Schüler fehlt noch.)

Vorne wird momentan der Tagesablauf mit dem Lehrer besprochen, wir haben also noch etwas Zeit. Ich sehe, dass euch die normalen Stühle aufgefallen sind und auch zwei Schüler, nein, da vorne ist noch einer, die ihre innere Spannungen abbauen. Sie kippeln.

Kippeln ist etwas, was gerne praktiziert wird und auf Dauer unglaublich nervt! Die Stühle schwingen vor und zurück. Kippen vor und zurück. Manche Kinder schaffen einen Schwung und Winkel, der mit den physikalischen Gesetzen kaum noch zu vereinbaren ist. Ebenso beliebt, dass sie auf zwei Stuhlbeinen grandios geschickt balancieren, dass die Kinderbeine in der Luft baumeln und der Oberkörper irgendwo auf dem Tisch des Hintermannes hängt, wenn es denn einen gibt. Mich wundert es immer wieder, dass nur der Stuhl mit geräuschvollem Poltern zu Boden knallt, während das Kind kauernd darüber hängt. In einer Position als wollte es sich gerade aufs Klo setzen. Bei der Entwicklung müssen sehr erfahrene Kippelprofis am Werk gewesen sein, denn bis jetzt hatte sich keins der Kinder ernsthaft verletzt.

Jetzt hat die Unterrichtsklingel geläutet. Der Klassenlehrer ist nun so weit. Hey, du im Sitzsack der Leseecke! Ja du! Ich weiß, der ist sehr bequem und der Teppich drunter verhindert, dass es zu kalt wird. Als das Klassenzimmer in den Sommerferien eingerichtet wurde, hatten wir – die Deutschlehrerin und ich - auf diese Ecke bestanden und mit dem Klassenlehrer eingerichtet. Beides hatte ich mitgebracht, inklusive der Kissen und Decken, damit du es jetzt so kuschelig hast. Sonst würdest du jetzt auf ungemütlichem, kaltem Linoleum hocken. Wo die Kinderbücher herkommen? Teils aus der Schule und einige stammen aus öffentlichen Bücherregalen, die auf meiner Laufstrecke liegen. So, und jetzt ist hier Ruhe!

Alle anwesenden Kinder saßen an ihren Plätzen. Die Orga war erledigt. Es konnte losgehen.1. Stunde: Mathematik (Baumdiagramm)

Die Lernmotivation war noch groß. Einige saßen in lernfreudiger Haltung auf ihren ergonomisch angepassten Stühlen, während der andere Teil seine Motivation für Diagramme noch im eigenen Mäppchen oder im Mäppchen des Tischnachbarn suchte. Entscheidungsmöglichkeiten (Kombinatorik) haben ihre Tücken. Das weiß man, wenn man mit Kindern in die Eisdiele geht und ihnen sagt, dass sie zwei Kugeln Eis bekommen. Da braucht man kein Baumdiagramm zu kennen, um zu wissen, dass man gleich ganz stark sein muss, wenn man nein zur dritten Kugel sagt. So ähnlich war es hier.

„Aber ich darf immer drei Kugeln Eis essen.“

„Ich bekomme auch mehr.“ Jetzt schrie jeder, wie viel Eis es essen durfte, obwohl das niemand gefragt hatte und gar nicht das Thema war, sondern wie viel Kombinationen man bei Erdbeer- , Schokoladen- und Vanilleeis hatte.

„Ich mag kein Schokoladeneis!“

„Ich esse nur Vanilleeis!“

„Bäh, Vanilleeis!“ Wieder gab es ein Stimmenwirrwarr, in dem keiner ausmachen konnte, wer welches Eis mochte. Unser Kind mit Laktoseintoleranz arbeitete derweilen verbissen an seinem Diagramm und blendete alles andere aus. Kluges Kind!

Womit schon ein Teil der Problematik deutlich wird. Ein großer Teil hatte nicht verstanden, was verlangt wurde. Es ging nur darum, etwas in den Raum zu rufen und sich mitzuteilen, egal ob es passte oder nicht.

Die heilige Stille des Klassenzimmers wurde durch das plötzliche, ruckartige Öffnen der Klassenzimmertür unterbrochen. Der erste Knall entstand durch die schwungvolle Betätigung der Türklinke und das nächste Geräusch, als die Tür gegen die hölzerne Garderobe knallte. Alle Augen waren auf Klaus gerichtet, der atemlos in der Tür stand. Den Ranzen so haltend, dass man meinen könnte, er würde gleich unter der schieren Last zusammenbrechen. Klaus kam oft zu spät, was meistens an den Verlockungen seines Schulweges lag.

Noch war der Klassenfokus beim Zuspätkommer, der den roten Teppich nutzte, um geräuschvoll seinen Platz einzunehmen. Doch das sollte sich gleich ändern, denn wer aufgepasst hat, dem ist es nicht entgangen, dass die Tür zwar geöffnet, aber nicht geschlossen wurde.

Theo, der direkt neben der Tür saß, sprang auf und knallte sie schwungvoll zu. Dabei war er so fix wie Ant-Man. Oft, so schien es, waren seine Beine in Bewegung, da wusste er noch gar nicht wohin und wieso. Aber das könnte auch daran liegen, dass ich nicht Ant-Women bin. Bevor ich kopfüber aus einer S-Bahn springe, um einen Ball nachzujagen, frage ich mich, ob sich der Aufwand lohnt und es eventuell ein klitzekleines bisschen gefährlich sein könnte. Eine offene Klassenzimmertür war nicht sonderlich gefährlich. Außer ein Körperteil befand sich zwischen Tür und Rahmen, wenn Ant-Man in Aktion trat. Und dass ich Theo mit Ball, Tür und einer S-Bahn in Verbindung bringe, ist kein Zufall! Theo hat viele Qualitäten, die einen echten Superhelden ausmachen. Leider auch die Affinität, durch plötzliche Impulse eines grausamen Heldentodes zu sterben.

Inzwischen hatte sich die entstandene Unruhe gelegt und alle lauschten den Ausführungen des Lehrers. Zur Erinnerung: Kombinatorik mit Baumdiagramm. Sagte ich alle? Fast alle.

Knack. Knack. Auf meiner Richtungsscala schwang auf 9 Uhr ein Stuhl. Knack. Nach vorn und wieder zurück. Knack. Vor und noch weiter zurück. Auf 11 Uhr zersägte man einen Radiergummi. Eine sehr beliebte Methode sich die Zeit zu vertreiben. Der Stuhl bewegt sich weiterhin in meinem äußeren Sichtkreis. Unaufhörlich strapazierte er meinen Gleichgewichtssinn.

Ein schleifendes Geräusch auf 12 Uhr erregte ebenso meine Aufmerksamkeit. Emil drehte mit Begeisterung einen Stift in den Gummizug seiner Postmappe. Ein Belastungstest? Nein. Ursache und Wirkungsprinzip waren sein Bestreben. Fasziniert sah er zu, wie der Stift wild herumwirbelte, als er diesen losließ. Da der Gummizug seine ursprüngliche Position einnehmen wollte und dabei reichlich Schwungkraft entstanden war, wurde der Stift in die Mitte des Klassenzimmers katapultiert. Viele Augen suchten nach der Geräuschquelle, inklusive die des Lehrers.

Der Stuhl schwang weiter. Immer wenn die Richtung geändert wurde, ächzte die Sitzgelegenheit unter der Belastung. Ich suchte den Augenkontakt und setzte den Augenbraue-hochzieh-muss-das-sein-Blick ein. Der Stuhl ruht danach in sich selbst. Allerdings war mir klar, dass das nur von kurzer Dauer sein würde.

Auf 12 Uhr probierte man es nun mit einem Lineal. Ein dezentes Geräusch erklang, wie wenn ein Lineal mit etwas Schwung über den Boden glitt.

Benjamin, der weiter vorne saß, mochte sich anscheinend auch nicht mit dem Baumdiagramm beschäftigen. Er beschäftigte sich lieber mit dem Hintermann. Verdrehte die Augen und schnitt Grimassen. Sein Hintermann reagiert darauf und bekam, da er genau im Blickfeld des Mathelehrers saß, den vollen „bösen Blick“ ab. Ich nenne ihn nur so, denn er sieht eigentlich gar nicht böse aus, aber egal wen dieser Blick traf, er bewirkte, dass es sofort aufhörte.

Inzwischen war ich auf dem Weg und legte Emil im Vorbeilaufen die Hand auf die Schulter. Ganz behutsam und mit dem dezenten Hinweis, dass gerade Mathe stattfand. Emil steckte alle relevanten Ersatzrotoren zurück in sein Mäppchen und widmete sich endlich seinem Arbeitsblatt. Aber nicht lang, denn in der geschriebenen Arbeitsanweisung stand: benutze Lineal und Bleistift. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er leise unter Nachbartische und Radiergummiresten abtauchte.

Knack. Knack, Wumms. Die Gravitation hatte über den Stuhl gesiegt. Ich war sowieso auf dem Weg. Wartete geduldig, bis Stuhl und Kind sich sortiert hatten und las leise die Arbeitsanweisung vor. Fragte, ob es weiß, was zu tun war. Das Kind hatte Honig im Kopf, wenn es um Buchstaben ging. Nicht das einzige Kind in der Klasse. LRS hat viele Gesichter.

Neben der Eingangstür hängt eine Uhr und die sagte mir, dass noch 15 Minuten vor uns lagen, während die meisten Geräuschverursacher an ihrem Arbeitsblatt verzweifelten und beobachte, dass vorne eine neue Ereigniskette im Anmarsch war. Aber das konnte ich gerade nicht beeinflussen, denn ich musste noch etwas anderes erledigen, was weitaus dringender war. Der Lehrer war ebenfalls unterwegs, um Schüler Impulse zu geben und hatte mit Sicherheit bemerkt, was sich neben seinem Pult abspielte.

Im Klassenzimmer war es inzwischen leise geworden. Jedes Kind saß konzentriert an seinen Aufgaben. Jedes Kind? Nein. Eins war aufgestanden und zum Regal gelaufen, wo VIER Kapselgehörschutze lagen. Dieses Kind ist blitzgescheit. Ich vermute einen IQ von mindestens 130. So wie Emil Ursache und Auswirkung von Gegenständen ausprobierte, probierte dieses Kind menschliche Reaktionsketten in Gang zu setzen, wenn es langweilig wurde. In der Klasse herrscht der klassische Sozialismus. (Was mein Nachbar hat, brauche ich auch!) Als sich unsere Blicke trafen, sah ich genau dieses Wissen in seiner Mimik mitschwingen. Ein Hauch von Triumph im Mundwinkel und ein schelmisches Blitzen in den Augen.

Wenige Sekunden später schlich das nächste Kind zum Regal. Holte sich einen Gehörschutz. Noch eins und noch eins und ... NOCH eins. Interessiert beobachtete ich in meinem Tun, wie es unweit von mir weiterging, obwohl ich den Ablauf sehr wohl kannte. Es ging zum Lehrer, um zu sagen, was er eh schon wusste. Es gab nur vier und die waren weg. Im Klassenzimmer war es so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können, was den Strom der Nachfrage trotzdem nicht abklingen lies. Es wurde nur von einem leisen elektronischen Piepen und Schnarren unterbrochen. Wieder blickte ich auf die Uhr an der Wand. Noch 2 Minuten abwarten und schauen, ob das, was ich vorher veranlasst hatte, Wirkung zeigte. Ich sprach mich kurz mit dem Kind ab, sensibilisiere es dafür.

In der Zwischenzeit war eine Lehrkraft gekommen und hatte weitergeleitet, dass die Erstklässler noch eine weitere Stunde bleiben mussten. Die Zeit war günstig für mich, schnell die Dokumentation zu erledigen, bevor ich es nachher nicht mehr rekonstruieren konnte. Ich musste mir ein amüsiertes Grinsen verkneifen, als ich den ungebrauchten Gehörschutz, wie eine Isignie auf dem Tisch des Kindes sah. Eine Hand fast beschützend darübergelegt oder damit man es schnell aufsetzen konnte.

***

Okay, wie war das gewesen?

Den Blutzucker mehrmal gecheckt und daran erinnert. (Die Zeiten und Werte eingetragen)

Auf die beginnende Hypo hingewiesen und zum Handeln angeregt. (Wert/Uhrzeit/sebständig gehandelt Ja/Nein)

Zusammen überlegt, wie viel Gramm in der Situation angemessen war. Selbstständig gewusst was es tun muss. JA/Nein (Die Insulinpumpe ist funkelnagelneu und das Kind damit noch ganz schön gefordert)

Mich vor Unterrichtsbeginn über den Vertretungsplan informiert, da die zweite Lehrkraft schwanger und das eben doch nicht so einfach im Schulalltag umsetzbar war. Manchmal kamen pro Tag, sowie heute, drei unterschiedliche Vertretungen und davon hatte nicht mal die Hälfte eine Ahnung, was es mit Diabetes auf sich hatte. Von Insulinpumpen ganz zu schweigen. Manchmal hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen.

Außerdem hatte ich eine Mail von der Turnlehrerin erhalten. Es ging um die Faschingsfeier und wann die Klassenstufe zur Turnhalle durfte.

Randnotiz: EasyOFF programmieren? Eltern Bescheid geben, damit sie die Bewegung einplanen können.

Randnotiz: den Eltern mitteilen, dass wir uns sehr, sehr viel bewegen werden.

Randnotiz: Lehrer darauf aufmerksam machen, dass wir unbedingt vor der Turnzeit frühstücken müssen.

***

Bald war Vesperpause. Noch einmal den Wert checken. Oh, das wird knapp! Das Vesper sollte aufgeteilt werden. Ein paar Gramm für die Hypo und der Rest dann so. Wir überlegten zusammen, welche Menge geschickt wäre. CamAPS schlug 1,8 IE vor, was sich mit dem deckte, was sonst bei gleicher KE-Anzahl vorgeschlagen wurde.

Hin und wieder stand kein Sensorwert zur Verfügung und dann konnten wir wenigstens noch den vom Messgerät nehmen und manuell eingeben. Dabei hatte es sich einmal vertan und wollte 8 IE abgeben, worauf ich meinte, dass es ganz gut wäre, wenn es den Blutzuckerwert nicht bei Gramm eingeben würde. Kleine Ursache, gigantische blöde Auswirkung.

Jetzt war alles richtig und es bestätigte und ich schnappte mir das Vorlesebuch. Der Klassenlehrer hatte sich bereits verabschiedet. Er musste schnell zur nächsten Klasse eilen, während hier eigentlich schon die Übergabe hätte stattfinden sollen.

Was sich in der Theorie gut anhört und seitenweise bizarre Denkprozesse füllt, scheitert an der Praxis. Und warum? Weil Menschen und da gehören Kinder auch dazu, keine Roboter sind. Es bedeutet ganz praktisch, dass die Vertretungskraft aufgehalten wurde. Also Brust raus, Aura aufbauen und die momentane Rolle in sekundenschnelle einnehmen. Ich switche um, nehme die Bühne in Beschlag. Den einzigen Platz, den ich im Klassenzimmer niemals einnehmen würde, ist das Lehrerpult. Nicht dass ich es nicht dürfte, aber es ist meine persönliche Grenze, meinen Platz im Klassenzimmer für mich zu definieren. Es ist für mich die eine Grenze, die ich niemals überschreiten will und werde.

Während der Raum von aufklappenden Vesperdosen und Trinkflaschen erfüllt wird und mir der Duft von Wurst- und Nutellabroten lockend um die Nase zog, ertönte aus den Lautsprechern die Durchsage, dass am Faschingstag ein Kuchenverkauf stattfinden sollte. Während ich meine Lesebrille zurechtrücke, lächle ich mein Begleitkind an und forme mit dem Mund die Worte: „Morgen gibt es Kuchen!“ Es nickt und lacht. Ein kurzer Blick durchs Klassenzimmer. Alle hatten ihre Vesperdosen ausgepackt. Dann konnte es ja losgehen.

In ein paar Minuten wird die erste Vertretungslehrerin kommen. Sie ist schon seit ein paar Jahren in Rente und hilft aus, wenn es brennt.

Sie wird deutsch unterrichten.

Satzglieder.

Die sind genauso beliebt wie Baumdiagramme.

Schaut mal, die beiden Mädels müssen aufs Klo und die Erstklässler packen auch ihre Sachen zusammen. Eine gute Gelegenheit, sich zu verabschieden und mit allen hinauszugehen. Seid vorsichtig, wenn ihr über die Ranzen steigt! Da liegt man ganz schnell auf der Nase. Bitte im rechten Gang aufpassen, da sind schon seit ein paar Tagen die Maler. Also bloß nicht an die Wand fassen oder zu nah vorbeigehen! Die Flecke bekommt ihr nie wieder raus! Passt auf, dass euch die Erstklässler nicht hinterherlaufen! Sie müssen an der nächsten Tür links stehen bleiben. Ah, seht ihr, es steht schon jemand bereit, der sie ins Klassenzimmer lässt. 

Da kommt endlich die Vertretungslehrerin. Also ich muss wieder los, denn ich höre, wie behauptet wird, sie hätten keine Hausaufgaben bekommen. Kinder!

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