POInT-Studie: Kann tägliches Insulinpulver Typ-1-Diabetes hinauszögern? - Was die neue Lancet-Studie für Familien bedeutet
Im November 2025 wurden im Fachjournal The Lancet die Ergebnisse der POInT-Studie veröffentlicht. Dahinter steckt eine große Frage, die viele Familien bewegt:
Können wir Typ-1-Diabetes bei gefährdeten Kindern verhindern oder zumindest hinauszögern?
Die kurze Antwort:
- Verhindern konnte man Typ-1-Diabetes (noch) nicht.
- Aber bei bestimmten Kindern wurde der Beginn der Erkrankung deutlich verzögert –
und das ist ein wichtiger Meilenstein Richtung personalisierte Prävention.
Im Folgenden findest du eine verständliche Zusammenfassung für Familien – ohne Fachchinesisch, aber fachlich sauber.
1. Worum geht es in der POInT-Studie?
POInT steht für Primary Oral Insulin Trial. Die Idee ist eigentlich simpel und erinnert an Allergieprävention:
Wenn der Körper früh und regelmäßig mit einem Stoff in Kontakt kommt (hier: Insulin über den Mund), lernt das Immunsystem vielleicht, ihn zu tolerieren, statt ihn zu bekämpfen.
Bei Typ-1-Diabetes greift das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse an. Oft sind Autoantikörper gegen Insulin einer der ersten messbaren Hinweise, dass dieser Angriff beginnt.
Die Hypothese:
Wenn Kinder mit erhöhtem genetischem Risiko früh Insulinpulver schlucken, könnte das Immunsystem „lernen: Insulin ist ok“ – und die Entwicklung dieser Autoantikörper (und später von Typ-1-Diabetes) wird verhindert oder verzögert.
2. Wer hat teilgenommen?
Die Studie wurde von der GPPAD-Plattform (Global Platform for the Prevention of Autoimmune Diabetes) organisiert. Beteiligt waren u.a. Helmholtz Munich, TUM, TU Dresden, Zentren in Schweden, Polen, Belgien und Großbritannien.
Schritte:
- In mehreren Ländern wurden hunderttausende Neugeborene gescreent, um Kinder mit hohem genetischem Risiko
(über 10 % Lebenszeitrisiko für Typ-1-Diabetes) zu finden. - Insgesamt wurden 1.050 Kinder mit erhöhtem Risiko in die POInT-Studie aufgenommen.
- Die Kinder kamen aus fünf Ländern: Deutschland, Schweden, Polen, Belgien und Großbritannien.
3. Was genau haben die Kinder bekommen?
Alter beim Start: zwischen 4 und 7 Monaten
Dauer der Behandlung: bis zum 3. Geburtstag
Ende der Nachbeobachtung: etwa bis zum Vorschul-/Grundschulalter (≈ 7 Jahre)
Die Kinder wurden zufällig in zwei Gruppen eingeteilt (randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert – also Goldstandard-Studienaufbau):
- Gruppe 1: Täglich hochdosiertes Insulinpulver zum Schlucken
- Gruppe 2: Täglich ein Placebo (Pulver ohne Wirkstoff)
Wichtig:
- Das Insulinpulver ist nicht dazu da, den Blutzucker zu senken.
Es wird im Mund und Verdauungstrakt abgebaut und wirkt hauptsächlich auf das Immunsystem, nicht auf den Blutzucker. - Die Behandlung wurde von den Kindern gut vertragen, es traten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auf.
4. Was war das Hauptziel – und wurde es erreicht?
Primäres Ziel der Studie war zu prüfen, ob orale Insulingabe:
die Entstehung von Inselautoantikörpern (also den frühen Vorboten von Typ-1-Diabetes) verhindern oder deutlich reduzieren kann.
Das Ergebnis hier ist klar:
Nein – insgesamt konnte das Insulinpulver die Entwicklung von Autoantikörpern nicht verhindern.
Kinder in der Insulingruppe entwickelten insgesamt ähnlich häufig Inselautoantikörper wie Kinder in der Placebogruppe. Das primäre Studienziel wurde also nicht erreicht.
Das klingt erst mal enttäuschend – aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende.
5. Die spannenden Ergebnisse stecken in den Details
5.1. Kinder, die bereits Autoantikörper entwickelt hatten
Bei den Kindern, die im Verlauf der Studie zwei oder mehr diabetesbezogene Autoantikörper entwickelten (das entspricht „Frühstadium Typ-1-Diabetes“), passierte etwas Bemerkenswertes:
- In der Insulingruppe verlief der Weg von „Frühstadium“ zu klinischem Typ-1-Diabetes deutlich langsamer.
- Die Forscher berichten, dass sich die Progressionsrate fast halbiert hat – also ungefähr 50 % langsamer war als in der Placebogruppe.
Für die betroffenen Kinder bedeutet das:
Weniger Jahre mit manifestem Diabetes im Kindesalter und vermutlich langfristig ein geringeres Risiko für Folgeschäden – auch wenn das noch weiter untersucht werden muss.
5.2. Der Einfluss der Gene – personalisierte Prävention
Besonders spannend: Die Forscher haben sich angeschaut, welche Variante des Insulin-Gens (INS) die Kinder haben. Dieses Gen kommt in unterschiedlichen Versionen (Varianten) vor, von denen einige das Risiko für Typ-1-Diabetes erhöhen.
Ergebnis:
- Über die Hälfte der teilnehmenden Kinder hatte eine Risikovariante im Insulin-Gen.
- Bei diesen Kindern war die orale Insulinbehandlung mit einem deutlichen Schutz vor der Entwicklung von Diabetes verbunden.
- Bei Kindern ohne diese Risikovariante sah es eher nicht vorteilhaft aus; dort nahmen die Autoantikörper eher zu.
Das bedeutet:
Orales Insulin ist keine „Einheitslösung“ für alle Kinder, sondern kann vor allem einer genetisch klar definierten Untergruppe helfen.
Damit ist POInT eine der ersten großen Studien, die zeigt:
Prävention von Typ-1-Diabetes muss wahrscheinlich personalisiert, also an die individuelle genetische Ausstattung angepasst werden.
6. Ist orale Insulintherapie jetzt eine neue Standardbehandlung?
Ganz klar: Nein.
Wichtige Punkte für Familien:
- Orale Insulinimmuntherapie ist aktuell eine experimentelle Methode, die nur im Rahmen von Studien eingesetzt wird.
- Es gibt kein zugelassenes Präparat, das man einfach so in der Apotheke kaufen oder zu Hause einsetzen könnte.
- Die in POInT verwendeten Dosen und Darreichungsformen
(Pulver, genau definierte Menge, kontrollierte Studie) sind nicht mit Alltags-Insulinpräparaten vergleichbar.
Ganz wichtig:
Bitte niemals auf eigene Faust Insulin zum Schlucken geben oder herumexperimentieren – das kann gefährlich sein und gehört ausschließlich in die Hände von Studienzentren und Spezialisten.
7. Wie passt das zu anderen Präventionsstrategien (z.B. Teplizumab)?
Parallel zur POInT-Studie gibt es andere Ansätze, den Beginn von Typ-1-Diabetes zu verzögern oder zu verhindern.
Ein Beispiel ist Teplizumab, ein Antikörpermedikament, das in einigen Ländern bereits zugelassen ist, um bei Menschen mit mehreren Diabetes-Autoantikörpern den Ausbruch von Typ-1-Diabetes zu verzögern.
Ganz grob kann man aktuell folgendes Bild zeichnen:
- POInT (orales Insulin):
Versucht, sehr früh im Leben und vor oder im allerersten Stadium der Autoimmunität anzusetzen – bei genetisch gefährdeten Babys. - Teplizumab & Co.:
Setzen später an, wenn bereits mehrere Autoantikörper vorhanden sind und das Risiko,
in einigen Jahren klinischen Typ-1-Diabetes zu entwickeln, sehr hoch ist.
Die POInT-Ergebnisse deuten darauf hin, dass zukünftige Präventionsstrategien:
- früher beginnen,
- länger dauern
- und auf den genetischen Hintergrund zugeschnitten werden müssen.
8. Was bedeutet das konkret für Familien?
Wenn euer Kind bereits Typ-1-Diabetes hat
- Die Studie ändert nichts an der aktuellen Therapie eures Kindes (Insulinpumpe, Pen, CGM etc.).
- Sie ist aber ein wichtiger Hoffnungsschimmer dafür, dass künftige Generationen vielleicht später oder gar nicht erkranken – insbesondere Geschwisterkinder oder andere Kinder mit erhöhtem Risiko.
Wenn es ein Geschwisterkind oder ein anderes Risikokind gibt
- Programme wie GPPAD/Freder1k oder andere Screenings bieten bereits heute in einigen Regionen die Möglichkeit, Risiko-Kinder früh zu identifizieren und in Präventionsstudien einzuschließen.
- Die POInT-Studie selbst ist abgeschlossen, aber weitere Studien werden geplant, die auf diesen Ergebnissen aufbauen – wahrscheinlich zielgerichteter, d.h. mit Fokus auf Kinder mit ganz bestimmten Genvarianten.
Wenn ihr euch für Screening oder Studien interessiert, ist der beste Weg:
- euren Diabetologen / eure Diabetologin oder
- ein Studienzentrum (z.B. GPPAD-Standort, Helmholtz Munich, Unikliniken)
anzusprechen und nach aktuellen Angeboten zu fragen.
9. Was sind die wichtigsten Take-Home-Botschaften?
- Prävention von Typ-1-Diabetes ist kein Zukunftstraum mehr, sondern aktive Forschung.
- Die POInT-Studie zeigt:
- Orales Insulin verhindert Autoantikörper insgesamt nicht,
- kann aber bei bestimmten Kindern den Krankheitsbeginn deutlich verzögern.
- Die Wirkung hängt stark von der individuellen Genetik (Insulin-Genvariante) ab.
- Die Therapie war in der Studie sicher und gut verträglich.
- Wir sind auf dem Weg zu personalisierter Prävention – also Vorbeugung, die auf das persönliche Risiko-Profil zugeschnitten ist, statt „one size fits all“.
10. Für alle, die tiefer einsteigen wollen
Originalpublikation in The Lancet
Ziegler AG et al. (2025): Efficacy of once-daily, high-dose, oral insulin immunotherapy in children genetically at risk for type 1 diabetes (POInT): a European, randomised, placebo-controlled, primary prevention trial. DOI: 10.1016/S0140-6736(25)01726-X The Lancet+1
Gut verständliche englische Zusammenfassung (Lund University):
„Oral insulin delayed onset of type 1 diabetes in some children with increased risk of the disease“ lunduniversity.lu.se
Deutschsprachige Presseinfos (Auswahl):
- TU Dresden / Helmholtz Munich zur POInT-Studie und personalisierter Prävention TU Dresden+1
Quellverweis: Publikation The Lancet+1 vom Nov. 2025
Heilung, Forschung, Studien, Prävention, Point Studie, GPPAD
- Erstellt am .