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Schule-Kindergarten

Inklusion leben: Warum wir Schulgesundheitsfachkräfte brauchen, damit Kinder mit Diabetes nicht länger ausgegrenzt werden

Professor Dr. med. Andreas Neu Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Kommissarischer Ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Tübingen im Rahmen der gemeinsamen Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe mit dem Verband Bildung und Erziehung (VBE) am Donnerstag, 6. September 2022, 11.00 bis 12.00 Uhr,

Der Alltag von Kindern und Jugendlichen im Schulalter bewegt sich zwischen Familie und Schule. Insbesondere mit zunehmender Ganztagesbeschulung hat die Verweildauer in der Schule erheblich zugenommen. Während Kinder früher den Vormittag in der Schule verbracht haben, werden sie heute in vielen Fällen dort das Mittagessen einnehmen und bis in den Nachmittag hinein betreut. Diese Veränderung im Tagesablauf von Kindern ist gesellschaftlich und politisch gewünscht, wird nahezu flächendeckend praktiziert und trägt der Tatsache Rechnung, dass beide Elternteile berufs-tätig sind.

Solange Kinder und Jugendliche keine besondere Unterstützung brauchen, funktioniert dieses System. Dann jedoch, wenn Kinder an einem Diabetes erkranken, müssen sie von heute auf morgen regelmäßig Blutzuckerkontrollen durchführen, regelmäßige Insulininjektionen verabreichen, das Essen, die körperliche Bewegung und die Insulindosierung aufeinander abstimmen. Zumindest im Grundschulalter sind Kinder damit überfordert. Allein die Bewertung einer Zahl, die den Blutzucker reflektiert, stellt sie vor große Herausforderungen: Kann ich problemlos essen, wenn mein Blutzucker zum Mittagessen bei 167 liegt? Welche Insulindosierung passt zu diesem Blutzuckerwert?

Überfordert sind nicht nur Kinder mit dieser Situation, überfordert ist auch das Schulsystem. Lehrerinnen und Lehrer haben primär andere Aufgaben als die Versorgung im gesundheitlichen Bereich. Schulsozialarbeiter sind in aller Regel mit der Vielzahl ihrer Aufgaben bereits überfordert. Schüler, die als Schulsanitäter ausgebildet sind, können vielleicht eine akute Wundversorgung machen, jedoch nicht das Behandlungsregime bei Typ-1-Diabetes steuern. Häufig werden in dieser Situation insbesondere Mütter zur Hilfe herangezogen. Telefonische Konsultationen sind machbar, jedoch aufwändig und risikoreich. In vielen Fällen kommen Eltern deshalb zur Unterstützung, beispielsweise während des Mittagessens, in die Schule. Das erklärt, warum das Ausmaß psychischer Belastung und psychischer Erkrankung nach Diabetes-Diagnose eines Kindes insbesondere für die Mütter extrem hoch ist: 15 Prozent der Mütter geben ihre Berufstätigkeit auf, 12 Prozent reduzieren die Berufstätigkeit. Besonders betroffen sind alleinerziehende Mütter. 46 Prozent der Familien berichten in der Folge über relevante finanzielle Einbußen.

2008 hat die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Diese regelt die Inklusion von Menschen mit Handicap und sichert deren Teilhabe ohne Einschränkungen. Für Kinder heißt das, sie haben ein Recht auf Ausbildung, sie haben ein Recht auf eine reguläre Beschulung, auch dann, wenn sie an einer chronischen Erkrankung leiden. In vielen unserer Nachbarländer sind Schulgesundheitsfachkräfte seit Langem etabliert. Die Modelle sind unterschiedlich ausgestaltet, in aller Regel versorgt eine Schulgesundheitsfachkraft rund 700 Kinder. Die Versorgung chronisch kranker Kinder ist einer ihrer Aufgaben ebenso wie die Versorgung bei akuten Verletzungen. Eine gutachterliche Stellungnahme hat zwei Modellprojekte in Brandenburg und Hessen detailliert beleuchtet und den Effekt der dort eingesetzten Schulgesundheitsfachkräfte evaluiert. Das Gut-achten der Technischen Hochschuld Mittelhessen kommt zu einem klaren Ergebnis:

  1. Die Implementierung von Schulgesundheitsfachkräften ist sinnvoll, machbar und finanzierbar.
  2. Schulgesundheitsfachkräfte fördern die Inklusion von Kindern mit chronischen Erkrankungen.
  3. Schulgesundheitsfachkräfte entlasten das Schulsystem.
  4. Schulgesundheitsfachkräfte tragen zur finanziellen Sicherheit von Familien bei.
  5. Volkswirtschaftlich sind Schulgesundheitsfachkräfte eine lohnende Investition.

Häufig werden Zuständigkeitsprobleme angeführt, die einem solchen Vorhaben entgegenstehen. Der Bund verweist auf die Länder, die Länder verweisen auf die Kommunen. Ähnliches erfolgt zwischen den für Gesundheit zuständigen Ministerien und den für schulische Belange verantwortlichen Kultus-ministerien.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft hat im Schulterschluss mit zahlreichen anderen Fachgesellschaften im vergangenen Jahr ein Positionspapier zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen in der Schule am Beispiel des Typ-1-Diabetes verfasst und breit gestreut. Wir fordern die Einführung von Schulgesundheitsfachkräften flächendeckend in einem ersten Schritt für Kinder im Grundschulalter. Modelle wie die sogenannten „Frühen Hilfen“ oder „Der Digitalpakt Schule“ haben gezeigt, dass sich Kompetenzschwierigkeiten überwinden lassen, wenn der politische Wille gegeben ist. Wir wünschen uns politischen Nachdruck, konstruktive Diskussionen in den gesundheitspolitisch relevanten Gremien und eine zeitnahe Implementierung, die eine Inklusion von Kindern mit Diabetes im schulischen Alltag ermöglich.

Literatur:
1. Dehn-Hindenberg, A: Diabetes care 44; 2656-2663, 2021
2. Gutachterliche Stellungnahme im Rahmen von Projektphase 4 des länderübergreifenden Modellprojekts „Schulgesundheitsfachkräfte“ in Brandenburg und Hessen, Transmit-Projektbereich Gesundheitsförderung; Technische Hochschule Mittelhessen. Hrsg. Maulbecker-Armstrong, C et al, 2020

(Es gilt das gesprochene Wort!)

Tübingen, September 2022

Schule, DDG, Betreuung, Politik, Kinderdiabetologen

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