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Mit Diabetes kann man alles schaffen - Ein Erfahrungsbericht einer Kinderdiabetologin mit Diabetes

BoomiEs begann im Jahr 2004. Warum ich das erwähne? Weil es eben 2004 und nicht 1856 war. Ich hatte gerade mein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen und meinen ersten, heiß-ersehnten Job in der Pädiatrie als Assistenzärztin bekommen. Ich war glücklich und auch ein wenig stolz zugleich. Leben, du kannst kommen, habe ich da noch gedacht.

Diese Euphorie hielt ziemlich genau 4 Wochen an. Dann musste ich zur Einstellungsuntersuchung beim Betriebsarzt. Wie das halt so üblich ist, wenn man einen (neuen) Job antritt. Und dann hieß es plötzlich: Sie haben Diabetes.  Bis zu dem Zeitpunkt wusste ich nichts davon und hatte damit auch nicht gerechnet. Dann ging es erst einmal zum Diabetologen. Ich wusste da noch gar nicht, was mit mir passieren wird und was alles auf mich zukommen wird. Na klar, was Diabetes ist, das hatte ich während des Studiums schon gehört und für die Prüfungen auch gelernt. Mehr aber auch nicht und das auch nur theoretisch und weit weg, bei anderen. Aber, ich habe doch keinen Diabetes, nicht mehr in meinem Alter, das kann doch nicht sein. Von nun an sollte der Diabetes 24/7 da sein…..

Der sehr empathische Diabeteologe, an den ich damals geraten bin, kam dann auch mit den Worten auf mich zu: „Sie haben Typ 1 Diabetes und der geht nie wieder weg. Suchen Sie sich mal einen anderen Job, Sie werden nie wieder als Ärztin arbeiten können“. Völlig sprachlos stand ich da, konnte es nicht glauben, meine Träume zerplatzen in dem Moment wie Seifenblasen. Das kann doch nicht wahr sein. Warum gerade ich? Was habe ich falsch gemacht?

Aber, es war wahr. Der Diabetes war da und der Job war wieder weg. Nach 4 Wochen wurde ich wieder auf die Straße gesetzt mit der Begründung,“ mit Diabetes können Sie hier nicht arbeiten“. Job weg, Traum zerplatzt und von nun an den Diabetes an der Backe. Das Leben ist so gemein. All das ließ mich erst einmal in ein tiefes Loch fallen. Das Leben ist zu Ende, so fühle es sich für mich an. Nur langsam begann ich mit Hilfe meiner Familie und meinen Freunden aus dem Loch heraus zu krabbeln und neuen Mut zu schöpfen, sowohl beruflich (ich wollte unbedingt als Ärztin arbeiten), als auch privat. 

Es war ein sehr steiler und steiniger Weg bis zum heutigen Tag. Ständig kämpft man gegen Vorurteile an, muss sich rechtfertigen. Immer noch besser sein als andere, weil man ja Diabetes hat. Sätze wie: „können Sie das überhaupt? Sie haben doch Diabetes“. Sind ganz oft gefallen. Sagen die Menschen so etwas aus Unwissenheit oder, weil sie wirklich glauben, dass man mit Diabetes komplett lebensunfähig und doof ist?

Erst trauen sie einem zu, dass man Leistung erbringen kann. Wenn man dann sagt, dass man Diabetes hat, dann kippt die Situation. Als ob der Diabetes direkt auf das Gehirn geht. Erst noch schlau, wird man durch die Diagnosestellung plötzlich dumm. Das Gehirn wird sofort angegriffen und zerstört. Und ich dachte immer, es sind die Betazellen des Pankreas, die zerstört werden bei Typ 1 Diabetes. Wie dumm von mir (Ironie off).

„Menschen mit Diabetes sind intellektuell nicht in der Lage ihre Therapie adäquat umzusetzen“ wurde mir vor gar nicht allzu langer Zeit von einer Kollegin mitten ins Gesicht gesagt. Wie kann das sein? Ich sitze als Oberärztin und Kinderdiabetologin vor ihr. Am Liebsten wäre ich sofort aufgestanden und gegangen. Ich konnte es nicht. Ich war sprachlos und konnte nicht reagieren. Mit so einer Aussage hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Ja, bis zum heutigen Tag musste ich kämpfen. Jeden Tag zeigen, dass ich auch mit Diabetes Leistung bringen kann. Dass ich mit Diabetes als Ärztin arbeiten kann. Ich habe 24 Stunden-Dienste gemacht, Nachtdienste und Schichtdienste. In der Woche und am Wochenende. Genauso, wie gesunde Ärzte auch. Warum denn auch nicht?

Jetzt arbeite ich als Oberärztin und Kinderdiabetologin in einer Klinik. Ganz im Gegensatz zur Prophezeiung von 2004. Ich habe meine Träume verwirklicht, das gemacht, was ich wollte, trotz Diabetes. Oder vielleicht gerade „wegen des Diabetes“. Er hat mich ein Stück zu dem gemacht, was ich heute bin. Er hat mich stark gemacht. Wäre ich das geworden, was ich heute bin „ohne Diabetes“? Bestimmt nicht.

Der Diabetes ist ein Teil von mir, wir leben zusammen. Keine Freundschaft, aber wir respektieren uns. Er ist da und geht nie wieder. Er hat mich nicht gefragt, ob er bei mir bleiben darf und ich hatte keine Chance „nein“ zu sagen. Seit 17 Jahren leben wir schon zusammen. Er bestimmt mich und mein Leben nicht, aber er ist da und macht auf sich aufmerksam. Dann möchte er, dass ich mich um ihn kümmere. Das mache ich dann auch und er lässt mich wieder in Ruhe. Fast wie eine schon lange bestehende Ehe.

Ich bin groß und kann mich wehren gegen all die Menschen, die Vorurteile haben und Menschen mit Diabetes diskriminieren. Das habe ich gelernt in den letzten 17 Jahren. Es war nicht leicht, aber es geht.

Was ist aber mit den Kindern mit T1 Diabetes? Sie können sich nicht wehren und für ihre Rechte kämpfen. Sie können nicht einfach wütend werden und sich durchsetzen. Das ist ungerecht.

Warum werden Kinder mit T1 Diabetes heute immer noch diskriminiert? In der Kita? Im Kindergarten? In der Schule?  Das darf nicht sein. Nicht mehr im Jahr 2021. Diese Kinder brauchen uns, Erwachsene, die sich für sie einsetzen und für ihre Rechte kämpfen. Wir müssen über Typ 1 Diabetes aufklären, Vorurteile ausräumen, damit die Kinder groß und stark werden können.

Achso, und für all diejenigen, die immer noch meinen, mit Diabetes kann man nichts erreichen im Leben. Ab Januar 2022 werde ich Chefärztin einer Kinderklinik. Und das mit Diabetes.

Liebe Kinder, liebe Eltern, glaubt an euch. Mit Diabetes kann man alles schaffen, sich seine Träume erfüllen, Ziele erreichen, Leistung bringen. Das Leben kann auch mit Diabetes so schön und lebenswert sein. Lasst euch nichts anderes erzählen, glaubt an euch und geht euren Weg!

Herzlichst

Eure Louisa van den Boom

Blog, Beruf, Kinderdiabetologen, Diagnose

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Diskutiert diesen Artikel im Forum (4 Antworten).
Nihewo2016 antwortete auf das Thema:
28 Juli 2021 10:28
Ein toller Beitrag, der Mut macht. Glücklicherweise mussten wir noch keine negativen Erfahrungen machen seit der Diagnose bei meinem Sohn, aber es zeigt, dass dies nicht selbstverständlich ist. Bisher sind alle der Diagnose mit viel Interesse, Verständnis und Engagement begegnet - sollten wir jedoch in der Zukunft Gegenteiliges erleben, werde ich mich an Ihren Beitrag erinnern. Viel Erfolg bei Ihrer neuen Aufgabe ab 2022!
NinasMama antwortete auf das Thema:
11 Juli 2021 17:37
Vielen Dank für den engagierten Artikel! Ich bin erschüttert über Ihre Erfahrungen. Unsere Tochter ist jetzt 7 und seit 5 Jahren lebt sie mit ihrem Diabetes.  Bislang sind wir verschont geblieben von zu dummen Kommentaren. Aber jetzt weiß ich, dass ich mich über nichts wundern sollte. 

LG Daniela 
EgonManhold antwortete auf das Thema:
10 Juli 2021 21:13
Hallo,
ich bin verwundert darüber, dass bei medizinisch vorgebildeten Menschen heute immer noch solche Vorstellungen vorhanden sind.
Das ist sicher ein Zeichen dafür, dass im Medizinstudium und auch in der praktischen Ausbildung, neben etlichen anderen Bereichen auch das Thema Diabetes Typ 1 viel ausführlicher behandelt werden muss!
Gruß, Egon
WebAdmin antwortete auf das Thema:
10 Juli 2021 11:57
Ein sehr schöner Beitrag!
Herzlichen Dank liebe Louisa.

Viele Grüße