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Veröffentlicht in Leben suess-sauer.

„Leben süß-sauer“ Folge 10 I don’t wanna know

Alle drei Monate mache ich mir ernsthaft Sorgen darüber, was der Diabetes für meine Zukunft bedeutet. Oder besser gesagt, nicht ich mache mir die Sorgen, sondern mein Diabetologe macht sie mir.

„Na, junge Frau. Können Sie mich denn noch sehen?“, begrüßt er mich, auf die schlecht eingestellten Diabetikern drohende Erblindung anspielend, zu jedem meiner Termine.

Worauf ich im abwechselnden Rhythmus antworte: „Hilfe! Da sind Stimmen in meinem Kopf“ oder „Ganz ehrlich – ich kann Sie einfach nicht mehr sehen!“

Ein herzhaftes Lachen und das obligatorische Wie-geht-es-denn-danke-ganz-gut-Frage-und-Antwort-Spiel später wird es schließlich ernst:

„Wie waren denn Ihre Werte in letzter Zeit?“

Ich habe drei Möglichkeiten, auf diese Frage zu antworten:

  1. Ich könnte einfach das sagen, was er hören will: „Ganz fantastisch! Ich habe fünf Mal am Tag gemessen und lag immer unter 160.“
  2. Unter dem Vorwand meines sehr, sehr stressigen Jobs könnte ich ihm versichern, mein Bestes gegeben zu haben, zum Blutzuckermessen aber nur selten gekommen zu sein.
  3. Da mein HbA1c mich so oder so verraten wird, könnte ich mir den Aufwand sparen und gleich die Wahrheit sagen: „Hundsmiserabel wie immer.“

Aller Vernunft zum Trotz entscheide ich mich jedes Mal dafür, einen auf gute Diabetikerin zu machen und erwähne ganz beiläufig, dass meine Teststreifen schon wieder alle verbraucht sind und dass ich dringend ein Rezept für neue brauche.

Und jedes Mal entscheidet mein Arzt sich dafür, mir nicht zu glauben: Immer, wenn ich mein strahlendstes Lächeln aufsetzte, um zu unterstreichen, wie gut es mir mit meinen fantastischen Werten geht, verdunkelt sich die Miene des Diabetologen. Zunächst lässt er mich ausreden, dann schweigen wir eine Minute – er weiß, dass ich lüge, ich weiß, dass er weiß, dass ich lüge.

Dann schließlich beginnt das eigentliche Ritual.

„Melissa. Ich weiß, dass du mich anlügst. Warum sagst du mir nicht einfach, wie deine Werte wirklich sind?“

Er hört auf, mich zu siezen; will mir damit sagen, dass ich erst richtig erwachsen sein kann, wenn ich die Verantwortung für mich und meine Gesundheit übernommen habe. Ich blicke schweigend auf den Boden, er setzt sich noch aufrechter in seinen Stuhl, räuspert sich und sagt:

„Du kennst doch die Folgeschäden. Soll ich dir noch mal die Bilder zeigen?“

Bitte nicht die Bilder!, schreit es in mir. Die Bilder, das sind Fotos von Diabetikern mit Folgeschäden. Sie hängen am Tropf, sind blind oder mussten sich beide Füße amputieren lassen. Ich kenne diese Bilder in- und auswendig und doch passiert es immer wieder: Kaum denke ich auch nur an sie, fange ich bitterlich an zu weinen.

Mal davon abgesehen, dass mich die Bilder wirklich zum Heulen bringen, ist das eine ziemlich gute Selbstschutz-Taktik: Eine weinende junge Frau auch noch wegen ihrer schlechten Blutzuckerwerte weiter zu tadeln – das würde nicht einmal der herzloseste Arzt über sich bringen.

Also darf ich fünf Minuten weinen, eine Sprechstundenhilfe nimmt mir Blut ab und bestätigt dem Diabetologen schließlich das, was eh schon wusste: ein katastrophaler HbA1c, der meine Gesundheit auf lange Sicht ernsthaft gefährdet.

Einen Klinikaufenthalt mit radikaler Neueinstellung legt der Arzt mir wie immer zum Abschied nahe, kann mir aber auch wie immer nicht mehr entlocken als das Versprechen, mich zu bessern. Alleine. Ohne Klinik.

Ich sage also: „Beim nächsten Mal werde ich drei Punkte runter sein!“

Bestimmt.

Hinweis von Diabetes-Kids.de:
Weitere Folgen der Serie „Leben süß-sauer“ werden wir ab sofort in regelmässigen Abständen hier veröffentlichen.
Herzlichen Dank an Frau Guadagno für diese tollen Geschichten.

Nächste Folge

Alle bisherigen Beiträge dieser Serie findet ihr hier

 

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