„Leben süß-sauer“ Folge 9 Live and let die
Eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit saß ich also im Biergarten „Unter den Linden“.Mit meiner engsten Jeans, den höchsten Schuhen und Make Up, das meine Mutter als Kriegsbemalung bezeichnet hatte. Über der Schulter trug ich eine Handtasche, die man wohl Täschchenchen nennen muss, weil eine einfache -chen-Verniedlichung ihrer Größe (bzw. Kleine) nicht gerecht werden kann. In der Tasche fanden genau ein Lippenstift, der von Mama gemopste Mascara und mein Fahrradschlüssel Platz.
Weder Traubenzucker noch ein Blutzuckermessgerät erachtete ich für wichtig genug, um statt des Täschchenchens doch einen Rucksack mitzunehmen. Das sollte sich rächen!
Nach und nach trudelten die ersten Diabetiker ein und schon Nummer Drei entsprach ganz meinem Beuteschema: gut aussehend, ein bisschen älter als ich und männlich. (Weitere Ansprüche zu stellen schien mir damals nicht ratsam – es hätte den Kreis der potentiellen Partner bloß unnötig verkleinert.) Mark hieß er, und damit die Frage des Abends: „Wie kriege ich Mark dazu, um meine Hand anzuhalten?“
Regel Nummer 1: Sei präsent. Ich setzte mich also auf den Platz genau gegenüber von Mark, lächelte ihn immer wieder an und bekam vom Rest der Veranstaltung nicht viel mit.
Auch nicht den Moment, in dem die Diskussion um das richtige Blutzuckermessgerät begann. Alle holten plötzlich die AccuCheck Sensors, Medisense Comforts und OneTouch Glucoses aus den Taschen, um sie miteinander zu vergleichen.
Spielten wir jetzt Messgeräte-Quartett? „Speicher? – 100 Werte.“ – „Ha, ich hab’ 150!“
Langsam wurden die Diskussionen um Messgenauigkeit und Kompatibilität mit PC-Systemen immer lauter. Schön fand ich es ja noch nie, Diabetikerin zu sein – an diesem Abend habe ich mich zum ersten Mal dafür geschämt. Die Menschen an den anderen Tischen tuschelten schon über uns.
Doch was noch schlimmer war: Mark fieberte engagiert mit im Kampf der Blutzuckermessgeräte. In einer kurzen Atempause wanderte sein Blick (erstmalig übrigens) rüber zu mir. Mit Entsetzten stellte er fragend fest: „Hast Du etwa keins dabei!?!“
Unerträgliches Schweigen setzte ein. Sieben Vollblut-Diabetiker starrten mich an und begannen nun offensichtlich, auch alles andere an mir in Frage zu stellen: Trinkt sie wirklich eine Cola light? Und wo hat sie eigentlich ihre Pumpe?
Seitlich im BH hatte ich sie und im Glas tatsächlich eine Cola light. Eine noch nie so hastig ausgetrunkene Cola light, die ich an der Theke bezahlte, um nicht warten zu müssen, bis eine Bedienung an den Tisch kommt.
Als ich das nächste Mal einen Termin bei meinem Diabetologen hatte, fragte er mich vergnügt, wie denn der Stammtisch gewesen sei.
„Noch schlechter als meine Blutzuckerwerte“ ,dachte ich, traute mich aber nicht, es auch auszusprechen.
Hinweis von Diabetes-Kids.de:
Weitere Folgen der Serie „Leben süß-sauer“ werden wir ab sofort in regelmässigen Abständen hier veröffentlichen.
Herzlichen Dank an Frau Guadagno für diese tollen Geschichten.
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